Seit Mittwoch kommt man auf Twitter in Deutschland am Hashtag #rp10 nicht mehr vorbei. Denn seit diesem Tag findet in Berlin an prominenter Stelle, im Friedrichstadtpalast, in Quatsch Comedy Club und in der Kalkscheune, die re:publica statt. Das Programm ist groß, ungefähr 150 Stunden werden gefüllt mit mehr als 120 Vorträgen, Workshops, Diskussionsrunden und Events von Sprechern aus der ganzen Welt, die 2500 Besucher begeistern. Was ursprünglich als Bloggerkonferenz startete, wird von Jahr zu Jahr größer und zieht auch weltweit bekannte Sprecher an – dieses Jahr sticht besonders der amerikanische Publizist Jeff Javis (Autor von „What would Google do?“) hervor.
Die Themen der Vorträge drehen sich natürlich um das Internet, um dessen Zukunft und die Auswirkungen auf die Gesellschaft. Die sind äußerst vielschichtig – dementsprechend bilden auch die Vorträge viele Facetten ab.
Herausragend am Mittwoch war der Vortrag von Jeff Jarvis „The German Paradox. Privacy, publicness, and penises.“ Bereits im Februar widmete er sich dem deutschen Paradoxon in seinem Blog und stellte die Frage: „Warum haben Deutsche kein Problem damit, vollkommen nackt in der gemischten Sauna zu sitzen, protestieren aber zugleich heftig gegen Google Street View?“ Aus seiner Sicht ist nicht die Privatsphäre das Problem, sondern die Kontrolle darüber. Gerade im Internet seien Privatsphäreneinstellungen häufig schwer verständlich. Er ist dafür, den Wert der Öffentlichkeit („value of publicness“) zu erkennen und zu nutzen. Denn „dein Wissen hat einen Wert. Wenn Du Dein Wissen verbreitest, verbreitest Du diesen Wert“, erklärte Jeff Jarvis. Er wirbt dafür, die in Deutschland verbreitete Neigung abzulegen, Wissen für sich zu behalten, sondern es zu verbreiten und damit dessen Wert zu steigern.
Nur wenige Stunden später füllte Peter Kruse den großen Friedrichstadtpalast mit seinem Vortrag zu „What’s next. Wie die Netzwerke Wirtschaft und Gesellschaft revolutionieren“. Er hat 191 „Heavy User“ des Internets interviewt und nach den Werten befragt, die ihnen persönlich wichtig sind. Seinen Erkenntnissen nach lassen sich die Intensivnutzer in zwei Gruppen unterteilen: „Digital Residents“ und „Digital Visitors“. Das Verständnis vom Internet ist bei beiden Gruppen gleich – aber was sie von ihm wollen, könnte unterschiedlicher nicht sein. Die „Residents“ schätzen Dynamik und Gestaltungsmöglichkeiten – Intransparenz und Bevormundung sind ihnen ein Graus. Die „Digital Visitors“ hingegen legen Wert auf verlässliche Informationen und Beziehungen, während sie Angst haben vor Oberflächlichkeit und Überforderung. Daraus leitet er ab, dass Streitquellen entstehen – „weil man nicht über die gleichen Dinge redet, nicht die selben Erfahrungen hat“. Deshalb nütze es nicht, in der Politik mit „Besuchern“ zu diskutieren – da keine gemeinsame Argumentationsbasis da sei. Er rät: Es müsse mehr Transparenz auf der Bewertungsebene geben und für alle, die dazu nicht bereit sind, hat der Professor eine klare Ansage: „Haltet doch wenigstens die Klappe“. Das Publikum spendiert ihm frenetischen Applaus und Standing Ovations. Seinen Vortrag kann man hier nachlesen oder hier anschauen.
Am Abend gab niemand geringerer als Sascha Lobo Bloggern Lebenshilfe – mit „How to survive a shitstorm“. Wer wäre zu diesem Thema qualifizierter als er – kassierte er doch im letzten Jahr im Zuge der Vodafone-Kampagne ordentlich Prügel. Und die Beispiele, die er zeigte, waren beeindruckend. In einer Nacht erhielt er ganze 46.000 Spamkommentare, in denen er beschimpft wurde. „Das Löschen sovieler Kommentare dauert übrigens 4 Stunden – aber nur, wenn man in der ersten Stunde nicht versteht, das man auch ‚alle Kommentare löschen‘ hätte anklicken können.“ Den Sprung von der virtuellen Beschimpfung in die Realität erfuhr er eines Nachts, als vier junge Männer an seiner Haustür klingelten und Ärger provozieren wollten. In einer Art persönlichem Rachefeldzug stellte er diese dem Publikum mit Foto vor – besonders heikel, dass er zusätzlich zum Foto auch den Klarnamen von einem der Besucher nannte, der als Direktkandidat bei der Bundestagswahl kandidierte.
Viele Besucher fanden sich beim Vortrag zu Wikileaks und zu #unibrennt ein, doch auch weniger politische Themen wie „Liebe im Internet“ oder „Wenn Prada Pakete schickt. Die neue Macht der Modeblogs“ fanden großen Zuspruch. Natürlich fiel häufig die Entscheidung schwer, was man sich anhören wollte, da viele interessante Vorträge zeitgleich angesetzt werden. Doch auch im Foyer und am kleinen Kaffeewagen vor dem Eingang lies sich vorzüglich Zeit verbringen – schließlich lief gefühlt die ganze deutschsprachige Blogosphäre dort vorbei oder fand Zeit für einen Kaffee. Ein Vortrag zu Augmented Reality jedoch machte klar, welche AR-Anwendung für eine Konferenz wie diese fehlt: Häufig wurde der Wunsch geäußert, einfach das iPhone auf eine Person zu richten und es würde eingeblendet, um wen es sich handelt. Denn bekannte Gesichter waren en masse zu sehen – doch nicht jeden kennt man ja im realen Leben tatsächlich.
Die Fotos hat dankenswerterweise Sebastian Gerhards zur Verfügung gestellt. Mehr Fotos von ihm von der re:publica kann man sich hier ansehen.
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