Ein Gastbeitrag von Hans Dorsch
Ich lese viel. Sehr viel sogar. Und meistens auf dem Smartphone.
Aber ich habe auch noch andere Dinge zu tun. Und nebenbei lesen ist unpraktisch, unsozial, gefährlich: Man hat nur eine Hand frei, ist irgendwie abwesend, weil man ständig auf den Bildschirm starrt – und auf der Straße einem erhöhten Unfallrisiko ausgesetzt (Laterne im Weg, Auto übersehen). Deshalb höre ich mittlerweile auch sehr viel auf dem Smartphone.
„Na, das ist ja mal was Neues”, sagen nun einige Leser. „Ich höre auch ständig Musik, Audio Books und – das soll ja jetzt wieder in Mode sein – Podcasts. Jawohl!“
Aber das meine ich nicht. Ich lasse mir Texte vorlesen: Kurze Nachrichten und lange Artikel. Praktisch jeden Text, der auf mein Smartphone gelangt. Sogar meine eigenen Beiträge lasse ich mir vorlesen, zur Korrektur.
Bei Android-Smartphones geht das mit der eingebauten Text-to-Speech-Funktion (TTS). Die ist seit langem Bestandteil des Betriebssystems und alles andere als banal: Das Programm liest nämlich nicht einfach Wort für Wort mit einer synthetischen Stimme vor, sondern nimmt sich den Text linguistisch vor und erzeugt eine phonetische Version davon. Außerdem erfolgt eine grammatikalische und syntaktische Analyse. So kann das System die Aussprache der Wörter je nach Stellung im Text verändern. Das erzeugt den Satzrhythmus. Schließlich sucht das System die besten Töne aus der Datenbank zusammen und gibt sie aus. Mehr Infos zur Funktionsweise von TTS liefert dieses Youtube-Video. Ende des Exkurses.
Theoretisch können alle Programme die TTS-Funktion nutzen. In der Praxis tun sie es aber nicht – oder nicht besonders gut. Da es außerdem (noch) keine hauseigene Funktion à la Siri gibt („Ok Google, lies mir den Bildschirm vor“), verwende ich zum Vorlesen eine spezielle App.
@Voice Aloud im Alltag
Sie heißt @Voice Aloud Reader, kostet als werbefreie Version vier Euro (die ich gerne investiere) und ist nicht besonders schön – aber ich möchte ja hören, nicht sehen.
Grundsätzlich gibt es bei mir zwei Anwendungsfälle:
1. Schnell eine Seite aus dem Browser vorlesen lassen
Ich sitze zu Hause in der Küche und lese einen Artikel bei Spiegel Online. Im Bad piept es: Die Wäsche ist fertig und muss aufgehängt werden. Deswegen rufe ich nun das „Teilen“-Menü auf und wähle @Voice Aloud. Kurz darauf wird mir der Text von der Spiegel-Seite vorgelesen. So funktioniert das übrigens mit praktisch allen Apps, die das „Teilen” oder „Senden” unterstützen. @Voice Aloud erkennt die Sprache, in der ein Text geschrieben ist und liest mit der entsprechenden Stimme vor. Bei mir ist das entweder Deutsch oder Englisch (wie langweilig).
2. Alle aktuellen Pocket-Artikel vorlesen lassen (mein Standardfall)
Vielleicht verwenden einige hier schon Pocket. Diese Später-Lesen-App gehört zur Standardausrüstung eines jeden Viellesers. Alle Artikel, die mich interessieren, die ich aber gerade nicht lesen kann oder mag, speichere ich darin – egal mit welchem Gerät. Auf dem Smartphone werden sie automatisch geladen, von Werbe- und Grafikbalast befreit sowie in einer praktischen Leseliste angezeigt. @Voice Aloud kann auf die Pocket-Liste zugreifen. Die App verbindet sich sich online mit meinem Pocket-Konto und lädt alle gespeicherten Artikel in eine (Vor)Leseliste. Die kann ich dann zum Beispiel beim Fahrradfahren durchhören. Mein Telefon bleibt dabei in der Tasche. Starten, stoppen, vor- und zurückspulen kann ich über die Tasten am Headset.
Stöpsel im Ohr
Ach ja, ich verwende in-Ear-Kopfhörer, Plantronics BackBeat Go 2, um genau zu sein. Sie sind relativ klein und günstig, und es gab sie im Paket mit einem kleinen Täschchen, das einen Zusatzakku zum Aufladen enthält. Es sind Bluetooth-Kopfhörer, denn Kabel nerven. Mit denen bleibe ich immer irgendwo hängen.
Ein kurzes Kabel haben die BackBeats aber doch. Es verbindet den linken mit dem rechten Ohrstöpsel. Ich lasse die Hörer praktisch den ganzen Tag um den Hals baumeln, habe sie also immer griffbereit. Tatsächlich nutze ich meist nur einen Stöpsel (den rechten, denn auf dieser Seite befinden sich Mikrofon und Bedienungstasten). So kann ich zuhören und gleichzeitig meine Umgebung wahrnehmen. Verkehr, andere Leute – und eben das Fiepen von Elektrogeräten im Bad.
Sanfte Roboterstimmen
„Ok, ok, alles sehr praktisch“, sagen jetzt wieder einige Leser. „Aber klingen diese synthetischen Stimmen nicht völlig monoton? Da geht der ganze Hörgenuss verloren. Wenn Schauspielerin X oder Autor Y etwas vorlesen, dann höre ich auch gerne zu. Aber sonst ist das nichts für mich.”
Nun, zum einen sind die persönlichen Lieblingsvorleser nicht immer verfügbar. Ich zum Beispiel würde gerne Sibylle Berg engagieren, nehme aber an, dass sie sich nicht ständig an meinen Küchentisch oder auf meinen Fahrradgepäckträger setzen möchte. Außerdem sind die Stimmen, die Android mitbringt, gar nicht so schlecht.
Die weibliche klingt allerdings irgendwie streng und klirrt auch ein wenig in den Ohren. Deshalb habe ich mir eine andere besorgt: Sie heißt Julia, kostet als Teil von Acapela-TTS-Voices ebenfalls vier Euro und liest mir deutsche Texte mit sanfter Stimme vor. Und zwar nicht monoton, sondern überraschend gut intoniert.
Das liegt daran, dass digitale Stimmen inzwischen aufwändig produziert werden: Echte Sprecher lesen eine Serie ausgewählter Texte vor, die möglichst alle Laute einer bestimmten Sprache enthalten. Die Aufnahmen werden dann in viele unterschiedlich große Stücke aufgeteilt: Sätze, Phrasen, Silben, Morpheme – und all das wird dann in einer Datenbank gespeichert.
Für die Ausgabe englischer Texte nehme ich übrigens gerne die Original Google-Stimme in der britischen Ausführung (GBR) oder greife zu Julias Kollegen Oliver.
Lese, Hör- und Vorlesebücher
Einen Anwendungsfall habe ich oben unterschlagen. Ich lese bzw. höre natürlich auch noch Bücher, wobei mir von Profis vorgetragene Werke – also Hörbücher – schon sehr gut gefallen. Aber eine Textausgabe zum Selberlesen und Stöbern, die möchte ich auch gerne haben. Bei Amazon gibt es da manchmal Bundle-Angebote. The Martian habe ich zum Beispiel als E-Book + Hörbuch für 10 Euro bekommen. Das heißt dann Whispersync for Voice.
Wenn es solche Pakete nicht gibt, ist das aber nicht schlimm: Die Vorlesefunktionen genügen mir. Gerade lese bzw. höre ich ich Fixing my Gaze von Susan R. Barry (Stereo Sue). Sie erzählt, wie sie mit über 50 Jahren durch Augentraining noch Stereosehen lernt. Ich bin zu so etwas wohl nicht fähig. Neulich bin ich morgens um fünf aufgewacht und konnte nicht mehr schlafen. Ich wollte einfach ein bisschen lesen – doch selbst dazu waren meine Augen zu müde. Zum Glück gibt es TTS.
@Voice Aloud kann also auch E-Books zum Besten geben. Allerdings haben einige E-Book-Reader Vorlesefunktionen eingebaut, die bequemer sind (Kindle gehört nicht dazu). In der Buch-Abteilung von Google gibt es ansonsten noch den Menüpunkt „vorlesen“ – allerdings werden hier (wie bei allen Google Apps) individuell installierte Stimmen leider ignoriert. Ganz großartig hingegen der PocketBook reader, den ich erst kürzlich entdeckt habe. Der kann sogar Dateien mit Adobe-Kopierschutz öffnen, die zum Beispiel bei der Onleihe meiner Bibliothek verwendet werden.
Gerade habe ich mir dort ein Buch von Sybille Berg ausgeliehen. Julia liest es vor.
Hans Dorsch lebt als Technikjournalist in Köln. Er mag Smartphones und andere Gadgets. Bei O’Reilly publizierte er zuletzt die Querformater zu Android-Tablets und -Smartphones. Am besten zu erreichen ist Hans via Twitter oder unter: about.me/hansdorsch
Mehr Tipps von Hans Dorsch findet Ihr in Das Buch zu Android Tablets.
oder in „Das Android Smartphone-Buch“.