NYC, eine wirklich interessante Konferenz zur Zukunft des Verlegens und ein Hotel direkt am Times Square – was will man mehr. Vom 22. bis 24. Februar fand die „Tools of Change“ (TOC) im Marriott Marquis mit fast 2.000 Betten direkt am Times Square statt. Beeindruckt haben meine Kollegin Elke und mich das riesige Atrium des Hotels und ganz besonders die Aufzüge. Kreisförmig um eine Säule angeordnet, beamen ein Dutzend gläserne Aufzüge die Hotelgäste enorm schnell und leise bis in den 49zigsten Stock. Technische Daten zu den Aufzügen waren leider nicht zu finden. Ich muss noch zwei weitere touristische Anmerkungen loswerden: Als wir in NYC waren, schneite es stark. Unablässig wurde Schnee geräumt und wir haben uns gefragt, wo er wohl bleibt. Amerikanische Kollegen sagten, er würde mit Lastern nach New Jersey gebracht – weil nämlich durch und durch mit Streusalz kontaminiert. Wir waren allerdings Zeugen, dass zumindest Teile der Schneemassen in der Nähe der South Ferry mithilfe riesiger Maschinen geschmolzen wurden! Die New Yorkerinnen tragen bei solchen Wetterlagen übrigens Gummistiefel in allen erdenklichen Designs – die Männer nicht.
Jetzt aber zur TOC. Auf der Website zur Konferenz wurde mit dem Slogan „Connect with Publishing Innovation“ geworben und wir finden, absolut zu Recht. Durch Erfahrungsberichte, provozierende und visionäre Thesen hat sie mehr „Food for Thought“ geboten, als ich – zumindest während der Konferenz – verdauen konnte.
Verglichen mit der TOC in Frankfurt im letzten Herbst hatte sich – so war unser Eindruck – der Fokus des Programms verschoben. (Eine Ausnahme bildeten die Workshops des ersten Tages.) Ging es in Frankfurt noch hauptsächlich um DRM, E-Book-Reader und technische Fragen der Konvertierung, so stand jetzt eher die Konzeption von wirklich innovativen E-Books im Mittelpunkt. Konsens war, dass es zukünftig nicht ausreichen wird, p-books (print books) direkt und ohne zusätzlichen Mehrwert oder Funktionalität in e-books umzuwandeln. Dieses angestrebte, wirklich innovative E-Angebot wurde häufig als Enhanced Book bezeichnet. Es wurde auch deutlich, dass sich diese neuen Produkte teilweise schon sehr von dem unterscheiden werden, was wir heute unter „Buch“ verstehen. Und dass die Entwicklungskosten solcher Produkte immens sind — es war in Einzelfällen von 25.000-50.000 USD pro App die Rede.
Dass sich Verlage dringend um attraktive Produktformen kümmern müssten, betonte auch William Patry. Patry ist _der_ Experte in Copyright-Fragen und Senior Copyright Counsel bei Google Inc. Er beschrieb, wie er selbst Copyright früher als eine Art „Feenstaub“ missverstanden hätte. Durch Copyright-Schutz würde etwas automatisch mit einem gewissen ökonomischen Wert versehen, hatte er angenommen. Patry betonte, Copyright (an sich) sei nicht in der Lage, Menschen dazu zu bringen, etwas zu kaufen.
Wie unterschiedlich Enhanced Books aussehen können, zeigten die folgende Beispiele: Peter Collingridge von Enhanced Editions (UK) stellte in seinem Vortrag kurz die App „Nick Cave: The Death of Bunny Monro“ für das iPhone vor (im Video ungefähr bei 12:00). Der Leser bzw. App-Konsument kann auswählen, ob er Caves Text lesen, vom Autor vorgelesen bekommen, gleichzeitig lesen und hören oder ein Video ansehen möchte.
In eine ganz andere Richtung geht „Enhancement“ bei Logos Bible Software. Ich habe den Vortrag „Network Effects Support Premium Pricing“ selbst nicht gehört, aber Joe Wikert, General Manager & Publisher bei O’Reilly Media, Inc., beschreibt in seinem Blog, welche Möglichkeiten die App bietet. Die App ist nicht nur ein E-Book-Reader wie Stanza, sondern bringt bereits verschiedene Bibel-Ausgaben und Links zu zahlreichen anderen Produkten von Logos mit. Der Leser kann so ganz einfach Bibelstellen in unterschiedlichen Übersetzungen vergleichen. Oder er kann umfassendes Zusatzmaterial beispielsweise über Orte der Bibel, historische Zusammenhänge etc. aufrufen. Enhancement meint hier die konsequente und strategische Verlinkung von Informationsangeboten. Wie Joe Wikert treffend bemerkt, ist in solchen Fällen das Ganze größer, als die Summe seiner Teile.
Interessante Anregungen, wie stark sich die neuen E-Angebote wohl von dem entfernen können, was wir heute noch unter „Buch“ verstehen, bot Peter Meyers (A New Kind of Book) Talk Book Meets Tablet: 10 Ways to Enhance Your iPad Books Er zeigte handgezeichneten Skizzen und stellte Ideen vor, wie im Zeitalter der iPad-Bücher beispielsweise Inhaltsverzeichnisse oder „Navigation“ in Büchern aussehen könnte – in Anlehnung an Computerspiele (multimedialer, interaktiver). Eine Idee, die mich ein bisschen gruseln ließ, war, Short Stories im Stil von Sitcoms zu präsentieren. Aber wer weiß.
Eine Art Gegenpart zu soviel Umdenken, bildete Tim O’Reillys Abschluss-Keynote „The Future of Digital Distribution and EBook Marketing“ . „Why there will always be Publishers“ – so könnte sein Vortrag auch heißen, sagte er eingangs. Er rief Verlage dazu auf, sich auf das, was sie wirklich können, den „ugly stuff“ wie Produktionsfragen, Distribution, das Managen von Vertriebskanälen, Preisgestaltung oder Marketing zu konzentrieren. Es ginge nicht darum, das coolste Produkt zu entwickeln, sondern „the product that teaches you the most in an emerging market“. Verlage sollen außerdem Autoren beim Heuhaufenproblem helfen; d.h. sie dabei unterstützen, noch bekannter zu werden: Beispielsweise, indem mit E-Books in diversen Formaten und über diverse Vertriebskanäle experimentiert wird, oder nicht zuletzt durch die Social Media-Aktivitäten des Verlags.
Ich hätte hier Lust, noch weitere Talks und Thesen zu beschreiben, aber jetzt ist, fürchte ich, wieder der „ugly stuff“ dran.
Die Keynotes der TOC 2010 in NYC sind übrigens hier als Videos zu sehen.
Unter http://toc.oreilly.com/ sind mit Datum 23. bis 25. Februar einige kürzere Video-Interviews (3-4 min) zu finden, die Mac Slocum mit einigen Speakern während der TOC geführt hat.