Am Dienstag fand von 8:00 bis 18:00 in Frankfurt die „Tools of Change for Publishing“ statt: ein Tag vollgepackt mit 3 Keynotes am Vormittag, 4 parallelen Tracks mit Vorträgen am Nachmittag und einer Runde Pecha Kucha vor der abschließenden Keynote. Tim O’Reilly musste die Keynote leider wegen ernster Rückenprobleme absagen. Vertreten hat ihn, inhaltlich voll und ganz in seinem Element, Andrew Savikas, VP of O’Reilly Digital Initiatives. Doch zu seinem Vortrag später mehr.
Es war anregend, verdichtet an einem Tag noch einmal so viele Aspekte, Thesen und Einschätzungen aus der aktuellen E-Book Diskussion und zum innovativen Verlegen zu hören. Natürlich gab es viel mehr Interessantes, als hier im Blog angesprochen werden kann. Hier aber zumindest einige Eindrücke und Thesen:
In seiner Keynote am Vormittag warnte Cory Doctorow „Don’t Get iTunesed with your eBooks“. Doctorow sagt über unser Verhältnis zum Buch: „Our books are us.“ Bücher haben symbolische Bedeutung, deshalb verstehen wir „Bücher verbrennen“ als Tyrannei. Grundlegend für unsere emotionale Bindung an das Buch ist für Doctorow „the experience of owing the book“. Kein Händler kann uns ein gedrucktes Buch, das wir einmal gekauft haben, wieder wegnehmen. Und Eltern können Bücher an ihre Kinder weitergeben. Anders momentan bei E-Books. Doctorow sieht das Eigentumsrecht (ownership) von E-Books durch DRM und aktuelle Lizenzmodelle der Anbieter von digitalen Inhalten dramatisch gefährdet. Als drastischen Fall führte er an, dass Amazon diesen Sommer George Orwells Roman 1984 von den Kindle-Geräten der Käufer einfach wieder gelöscht hatte. „Saving Books“ bedeutet aus Doctorows Sicht „restore ownership to books“ und notwendig den Verzicht auf DRM und fragwürdige Lizenzmodelle.
Am Nachmittag musste man sich zwischen zeitgleichen Vorträgen entscheiden. Ein Tipp meiner amerikanischen Kollegen brachte mich zu Michael Tamblyn: „Your Reading Life, Always With You: Next Steps in the Development of eReading“. Ein wirklich gelungener Vortrag. In Form einer Wordle-Cloud präsentierte Tamblyn zunächst, wie es in den Gehirnen der Verleger aussieht: jede Menge Schlagworte und Aspekte des E-Publishing wie Dateiformate, diverse E-Book-Reader oder die Angst vor Piraterie. Verteidigend oder abwehrend sei das Verleger-Hirn dem E-Publishing gegenüber eingestellt. Ein zentrales Problem aus Verlagssicht sei nicht zuletzt die Preisgrenze von 9,99 $. Tamblyn stellte dann in selbstironisch-hemdsärmligem Ton Überlegungen an, wie E-Books für Leser attraktiver werden und Verleger den Preis um 5 $ anheben könnten. Ihm sei beispielsweise als Leser eine „lifetime guarantee“ (also die verlässliche Lesbarkeit und Verfügbarkeit) eines E-Books einen Dollar wert. À propos proprietäre und ausgestorbene Dateiformate (wie z.B. .pkg): Tamblyn hält es mit Stephen King und meint „Sometimes dead is better“ und weiß „Zombies multiply like crazy“. Zu dem, was E-Books attraktiver macht, zählt Tamblyn auch die Möglichkeit, sie zu verleihen. Unterhaltsam berichtete er von einer Teenager-Liebe zu einer Hornistin während eines Summer Camps: Die Hornistin hatte ihm Romane von Pynchon u.a. geliehen und so sein „reading life“ für immer verändert. Zusammengefasst zeichnet sich ein gutes E-Book nach Meinung von Tamblyn dadurch aus, dass es „beautiful, lendable, semi-social (Austausch über Bücher, die ich lese), bundled (verschiedene Formate), persistent (keine Zombies), device neutral, shareable“ sei.
Das Motto der Abschluss-Keynote hieß: „Reasons to Get Excited“. Andrew Savikas wies auf die enorme Verbreitung von webfähigen Mobiltelefonen weltweit hin. Obwohl der App Store anfangs keine eigene Kategorie „Buch“ besaß, ist diese inzwischen zur zweitgrößten Produktgruppe angewachsen. Andrew berichtete, dass auch O’Reilly Media starke Zuwächse beim Absatz von PDFs, ePubs und iPhone Apps im Vergleich zu den Verkäufen gedruckter O’Reilly-Bücher verzeichnet.
E-Books sollten allerdings mehr sein als nur gedruckte Bücher in elektronischer Form. Das heißt vor allem, Funktionalität, die aus dem Web bekannt ist (wie Links und eingebundene Videos), konsequent zu nutzen. Denkbar ist aber viel mehr. Andrew brachte das Beispiel eines Vogelbestimmungsbuchs – als App konzipiert: Mithilfe der Digitalkamera, die in Smartphones integriert ist, könnte so eine App Vögel identifizieren.
Der Einfluss des Web verändert aber natürlich auch, wie heutzutage geschrieben wird (Blogs, Wikis). Viele Autoren wünschen sich einen intensiveren Austausch mit ihren Lesern. Um diesen Austausch zu unterstützen, hat O’Reilly das Open Feedback Publishing System (OFPS) entwickelt. Leser können hier, bereits während ein Buch entsteht, jeden Textabschnitt kommentieren. Im Fall des O’Reilly-Titels „Real World Haskell“ haben Leser insgesamt 7500 Kommentare abgegeben, 21 Reviewer sogar jeweils mindestens 75. Der „Tech Review“ war nach Andrews Aussage so 10x intensiver als bei anderen, sozusagen herkömmlich geschriebenen O’Reilly-Büchern.
Am Ende der Konferenz zitierte Andrew Savikas Alan Kay: „The best way to predict the future is to invent it“ und forderte die Teilnehmer auf, zu experimentieren und die Zukunft der Branche selbst zu gestalten. Dann sind wir mal sehr gespannt, wie die (Verlags)welt in einem Jahr aussieht.
In der nächsten Woche gibt es hier im Blog noch ein Videointerview mit Andrew, das meine Kollegin Barbara am Dienstag mit ihm geführt hat.