»Solange man versucht, das bestehende System zu optimieren, hält man sich an die Spielregeln. Jetzt haben sich aber die Spielregeln geändert.«
So beschreibt Nikolai Longolius, der Autor des Buchs Web-TV – AV-Streaming im Internet, die Lage der klassischen Fernsehsender im Zeitalter des Internets. Im Gespräch mit Alexander Kluge, das Mitte November 2010 in der Reihe »news&stories« auf Sat1 lief, erklärt der O’Reilly-Autor, vor welchen Herausforderungen das Fernsehen steht und wie es interaktive Elemente des Webs übernehmen kann – das Video ist, wie sollte es anders sein, im Web zu finden auf seiner Firmenhomepage unter: http://schneevonmorgen.com.
Der gerade 33jährige Longolius kann dabei auf beeindruckende Fernseherfahrung zurückblicken: Zehn Jahre arbeitete er für Spiegel TV, baute dann u.a. die Sender XXP und Spiegel TV Digital auf und plante die Videostrategie des wichtigsten deutschen Nachrichtenportals Spiegel Online. Heute ist er Geschäftsführer des eigenen Unternehmens »schnee von morgen«, das Medienhäuser dabei unterstützt, ihre Inhalte online zugänglich zu machen.
Sein umfangreiches, praxiserprobtes Wissen stellt Longolius für O’Reilly im Buch Web-TV – AV-Streaming im Internet zur Verfügung. Er erklärt, wie Videos ins Web übertragen werden, welche Formate und Kompressionsraten eingesetzt werden, wie man Mediatheken aufbaut oder wie man das Verhalten seiner Nutzer technisch auswertet, um ein passgenaueres Programm zu bieten.
Ein Zuschauer kann sich nicht länger als 90 Sekunden auf eine Sache konzentrieren? Fernsehen ist nur für Unterschichten da? Im Web ist alles kostenlos? – Longolius widerlegt gängige Vorurteile auf beiden Seiten, um dann an alle Fernsehmacher zu appellieren, die unaufhaltsame Verschmelzung von Fernsehen und Web endlich aktiv voranzutreiben. Man solle sich den technischen Möglichkeiten unserer Zeit stellen, und mit kreativen Lösungen das Fernsehen neu erfinden.
»›Technisch machbar‹ ist aber kein Synonym für ›sinnvoll‹, und schon gar nicht für ›profitabel‹«, so Longolius. Vielmehr geht es um einen attraktiven Einsatz von Interaktivität – und zwar genau dann, wenn der Zuschauer es will. Das 1001. Forum zu einem Fernsehfilm etwa sei keine Innovation. Und statt Arbeitsteilung und Auslagerung fordert Longolius die Redakteure auf, sich enger mit Softwareentwicklern und Technikern abzustimmen und auch in ihrer täglichen Arbeit häufig vorhandene Technikangst bzw. -verweigerung abzulegen.
Das durchaus provokative Buch will dabei nicht spalten: Longolius vermittelt und gibt Einblicke in das Feld des jeweils anderen. Es sind die Schnittmengen zwischen Web und TV, die er in den Mittelpunkt rückt. Wie ist das Web aufgebaut, welche Formate gibt es, was genau bedeutet Streaming, und welche Player sind verbreitet? Welche Geräte bringen heutzutage Fernsehen und Web in die Wohnzimmer? Und immer die Frage: Was erwartet der Zuschauer? Will er den Film genießen, sich zurücklehnen? Oder wird er gerade zum User, will interagieren? Die ursprünglichen Grundhaltungen »Lean Back« vom Fernsehen und »Lean Forward« der Web- bzw. PC-Nutzung wechseln und vermischen sich zusehends – Fernsehmacher sollten reagieren.
Doch nicht nur für TV-Profis ist das Buch höchst interessant. Um Lesern oder Zuhörern einen Mehrwert zum Produkt zu liefern, müssen die Inhalte aus den klassischen Medien wie Zeitung oder Radio auch im Web zur Verfügung gestellt werden. Auch im Arbeitsalltag außerhalb der Medien gewinnt AV-Streaming mehr und mehr an Bedeutung. Konferenzen oder Vorträge können per Streaming jenen Interessenten im Web zugänglich gemacht werden, die selbst nicht an der Veranstaltung teilnehmen können. Sysadmins ermöglichen per Videoübertragung die Vorstandssitzungen von Unternehmen. Private Podcaster lernen, wie sie zum Beispiel ihre eigene Mediathek aufbauen. Anwendungsgebiete gibt es also viele, und der Leser profitiert von Longolius’ enormer Praxiserfahrung und Sachkenntnis. Und: seiner großen Leidenschaft für Fernsehen und Web gleichermaßen.
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