Wir haben mit Nikolai Longolius anlässlich der Veröffentlichung seines Buches „Web-TV – AV-Streaming im Internet“ gesprochen. Dabei verrät er unter anderem, welche neuen Möglichkeiten das Web-TV im Vergleich zum klassischen TV bietet und was die beiden voneinander unterscheidet.
Du hast das erste deutschsprachige Internet-Radio betrieben, ehe du dich dem Web-TV angenähert hast. Diese Entwicklung umfasst ungefähr eine ganze Dekade. Kannst du uns deinen beruflichen Werdegang in dieser Zeit beschreiben?
Wir haben damals echtes Piratenradio gemacht mit Rockmusik und Alkohol – immer live und immer laut. Mit dem Platzen der Dotcom-Blase brauchten dann alle einen Job und ich bin bei SPIEGEL TV gelandet. Dort habe ich von der Pike auf gelernt, was es heißt, Fernsehen zu machen und dann immer mehr, was es heißt, einen Fernsehsender zu gründen. Durch den Aufbau von XXP, SPIEGEL TV Digital, DMAX und SPIEGEL Geschichte ist das Gründen von Fernsehsendern quasi mein Spezialgebiet geworden. Heute entsteht mit den Möglichkeiten des Webs langsam ein neues Fernsehen, und dieses Web-TV ist für mich der Ort, an dem ich gerade sein möchte.
Was waren in dieser Entwicklung für dich die wichtigsten technischen Meilensteine?
Zunächst einmal habe ich lange Zeit versucht, einen Bogen um die technischen Fragen zu machen. Die Technik ist meiner Meinung nach dazu da, um zu funktionieren und Ideen zu ermöglichen! Aber wie sich herausgestellt hat, tut sie das in den meisten Fällen nicht. Die wichtigsten technischen Entwicklungen sind aus meiner Sicht Cloud Computing und die stark sinkenden Übertragungskosten (Traffic). Durch die sinkenden Kosten ist es erst möglich, finanziell erfolgreiche Fernsehprojekte im Netz zu realisieren, und durch den Einsatz von Cloud Computing können die initialen Investitionskosten für Web-TV-Projekte sehr gering gehalten werden.
Was unterscheidet das Web-TV vom klassischen TV?
Zum jetzigen Zeitpunkt unterscheidet die beiden Medien das Marktverhältnis: Das klassische TV stellt einen Milliardenmarkt dar, während der Web-TV-Markt im Verhältnis dazu zu vernachlässigen ist.
Das Spannende am Web-TV ist nicht, was es heute ist, sondern das Potenzial, das es hat. Wir haben heute die Möglichkeit zu gestalten, wie wir morgen fernsehen wollen. Das ist mit dem Medium TV so in den letzten 70 Jahren nicht möglich gewesen. Dieser neue Möglichkeitsraum schafft viel Skurriles und Absurdes, aber einige Ideen werden unseren Medienkonsum nachhaltig verändern.
Was unterscheidet den heutigen Web-TV-User vom normalen Fernsehzuschauer?
Ich glaube, dass heutige Web-TV-Nutzer noch stark über ihre Technik-Affinität definiert werden. Man muss Web-TV heute wirklich wollen, um all die Kabel, Verbindungsabbrüche, schlechte Werbung, schlechte Bedienbarkeit und miserable Qualität zu akzeptieren, die einem geboten wird. Aber dieses wird sich in einem sehr kleinen Zeitraum radikal verändern. Am Ende ist es dem Zuschauer doch egal, welche Farbe und Form das Kabel hat, aus dem das Fernsehprogramm kommt. Hauptsache, das TV-Programm kommt in mein Wohnzimmer und ich kann meinen Fernseher weiterhin ohne ein Studium der Informationstechnologie bedienen.
Du hast für den O’Reilly-Verlag das Buch „Web-TV – AV-Streaming im Internet“ geschrieben. Für welche Zielgruppen ist das Buch bestimmt? Worum geht es in dem Buch und was lernen die Leser mit dem Buch?
Das Buch ist für all jene geschrieben, die an dieser Medienrevolution teilhaben wollen. Es geht um ein tieferes Verständnis davon, was Fernsehen heute ist und was fernsehen werden kann. Dies wird in Workflows und Inhalt präsentiert, aber immer in Bezug zur eingesetzten Technologie. Technologie ist kein Selbstzweck, sondern sie muss von außen mit Sinn gefüllt werden. Deshalb beschäftigt sich dieses Buch sowohl mit der Frage, wie wir in Zukunft fernsehen wollen als auch mit der Frage, wie man zum Beispiel sinnvollerweise die Streamingserver konfiguriert, um das Fernsehprogramm auszuliefern.
Nikolai Longolius ist seit 2009 geschäftsführender Gesellschafter der schnee von morgen webTV GmbH, die Web-TV-Projekte für professionelle Broadcaster konzipiert und realisiert. bereits zuvor hat er im Bereich Web-TV gearbeitet, darunter unter anderem als Berater für Authentic/ DER SPIEGEL bei der Gründung von SPIEGEL Geschichte TV. 2010 hat er für die Konzeption des Web-TV-Senders dctp.tv den Lead Award für das webTV des Jahres verliehen bekommen.
Wer dieses Thema spannend findet und mehr Informationen dazu sucht, erfährt im Podcast des Chaos Radio Express mehr. Im Interview mit Tim Pritlove spricht Nikolai Longolius unter anderem über die Geschichte und Technik von Streaming-Protokollen und -Formaten.
Das Interview führten Volker Bombien und Viviane Kramer.